Die Schönheit dieser Stimmung wird durch keine andere Stimmungsart erreicht. Ein Tasteninstrument mit natürlicher Stimmung kann man in der Regel nur für die Harmonisierung einer einzigen Tonart verwenden, sogar in dieser Tonart ist man Einschränkungen unterworfen.
Charakteristisch für die natürlichen Stimmungen sind die natürlichen Dur- und Moll-Dreiklänge zu den Tönen der diatonischen Tonleiter. Ein weiteres Merkmal ist das Vorhandensein großer und kleiner Ganztöne. Ein natürlicher Dreiklang beinhaltet nur reine große (5:4) und kleine (6:5) Terzen, die wiederum eine reine Quint 3:2 ergeben. Das pythagoreische Komma wird durch die Verengung einiger weniger (1 bis 5) Quinten ausgeglichen. Die zum zweiten Ton des Tonleiters gehörende Quint wird annähernd um den Betrag des pythagoreischen Komma verkleinert, damit das zweite Tonintervall ein kleiner Ganzton wird. Das pythagoreische Komma kann durch die Verengung weiterer Quinten überkompensiert werden; in diesem Fall wird die Quinte eines anderen Tones um den entsprechenden Betrag erhöht.
Die diatonische Tonleiter entsteht durch die Töne dreier quintverwandter Dur-Dreiklänge. Im C-Dur-System sind es die Dreiklänge F-, C- und G-Dur, die die Töne der C-Dur-Tonleiter (c d e f g a h; f-a-c=F-Dur, c-e-g=C-Dur, g-h-d=G-Dur) definieren. Die Oktave besteht aus einer reinen Quint und einer reinen Quart, beschreibbar durch das Zahlenverhältnis 2:3:4. Die Quint besteht aus einer reinen großen und einer reinen kleinen Terz 4:5:6, die reine große Terz aus einem großen und einem kleinen Ganzton 8:9:10. Der Halbton ist der Unterschied zwischen der reinen großen Terz und der Quart (4:3) / (5:4) = 16:15. Die kleine Terz besteht aus einem großen Ganzton und einem Halbton. Die mathematische Beschreibung des natürlichen Tonsystems geht auf den griechischen Schriftsteller, Grammatiker und Enzyklopädisten Didymos Chalkenteros (65 v.Chr.-10 n.Chr.) zurück. Das didymische (oder syntonische) Komma ist der Unterschied zwischen der pythagoreischen und der natürlichen Terz bzw. zwischen dem großen und dem kleinen Ganzton.
Die natürlichen Intervalle der diatonischen Dur-Tonleiter sind in Tabelle 2 dargestellt, sofern die Töne aus den Dreiklängen Fa-, Do- und So-Dur abgeleitet werden.
do |
re |
mi |
fa |
so |
la |
ti |
do´ |
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Quint 3:2 |
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Quart 4:3 |
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Quart
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große 5:4 |
Terz |
kleine 6:5 |
Terz |
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große |
Terz |
kleine |
Terz |
große |
Terz |
kleine |
Terz |
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großer Ganzton 9/8 |
kleiner Ganzton 10/9 |
Halbton 16/15 |
großer Ganzton |
kleiner Ganzton |
großer Ganzton |
Halbton
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Do-Dur |
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Fa-Dur |
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So-Dur |
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la-Moll |
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mi-Moll |
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KEINE |
TERZ |
KEINE |
QUART |
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KEINE |
QUINT |
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KEINE |
QUINT |
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KEINE |
QUART |
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Tabelle 2: Tonintervalle und reine Dreiklänge in der natürlichen Stimmung.
Die natürlichen Dreiklänge der Tonleiter sind Do-Dur, mi-Moll, Fa-Dur, So-Dur und la-Moll. Mit re kann man keinen reinen Moll-Dreiklang bilden, da das Intervall re-fa keine reine kleine Terz und re-la keine Quint ist: die reine kleine Terz besteht aus einem großen Ganzton und einem Halbton, der Intervall re-fa beinhaltet lediglich einen kleinen Ganzton und einen Halbton (s. Tabelle 2). Der Ton re ist in der diatonischen Moll-Tonleiter (la, ti, do, re, mi, fa, so) und in re-dorisch etwas tiefer als in Tabelle 2, dann ist nämlich das Intervall do-re der kleine Ganzton. Definiert man re als die große Terz des Ta-Dur-Dreiklanges, so entsteht die reine re-Dor-Tonleiter; der re-Moll-Dreiklang wird rein, So-Dur wiederum unrein.
Damit ist auch die Schwierigkeit dieser Stimmung ausgewiesen: Zu den 7 Tönen der Tonleiter benötigte man eigentlich 8 Tasten, nämlich eine für die hohe und eine andere für die tiefe Lage des Tons re. Diese unlösbare Schwierigkeit wird durch die unübertreffliche Schönheit der reinen Dreiklänge kompensiert. In keiner anderen Stimmung entstehen so viele virtuelle Klänge, die nicht angeschlagenen Obertöne eines ebenfalls nicht angeschlagenen Grundtons. Keine andere Stimmung ermöglicht eine so vollkommene Verschmelzung ihrer Töne.
In der Frührenaissance wird mit dem siebenten Ton ebenfalls kein Molldreiklang gebildet, da dessen Quint kein Bestandteil der diatonischen Tonleiter ist. Stattdessen wird für die Harmonisierung des zweiten und des vierten Tons oft der Ta-Dur-Dreiklang angewandt. Ta ist die verminderte Septim und liegt um einen großen Ganzton unterhalb des Grundtons. Somit ist Ta (der Ton b im C-Dur-System) der achte Ton der erweiterten Tonleiter. Der Ton re muss auch in dem Ta-Dur-Dreiklang die tiefe Lage einnehmen.
Die natürliche Stimmung ist ideal für die Renaissance-Musik. In der authentisch klingenden Renaissance-Vokalmusik wird ausschließlich die natürliche Stimmung angewandt, da hier der Ton re immer in der richtigen Höhe gesungen werden kann. Beispiele für diese Stimmung sind in Tabelle 3 zusammengestellt:
No. |
Name |
Jahr |
Tonart |
2 |
Agricola, Martin, Wittenberg |
1539 |
A-Dur |
5 |
Anonynus |
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G-Dur |
18 |
Euler, Leonhard* |
1739 |
C-Dur |
20 |
Fogliano, Ludovico (reine Temperatur, Venedig) |
1529 |
F-Dur, d-Dor, a-Moll, A-Dur |
29 |
Kepler, Johannes** (Linz) |
1619 |
G-Dur |
30 |
Kirnberger*** 1 |
|
C-Dur |
38 |
Lublin, Johannes von (Lubliyn) |
1540 |
A-Dur |
61 |
Rein Marburg |
1776 |
C-Dur |
62 |
Reinhard, Andreas (Schneeberg) |
1604 |
C-Dur |
Tabelle 3: Beispiele für die natürlichen Stimmungen.
* Leonhard Euler (1707-83) war einer der größten Mathematiker aller Zeiten. Er starb, fast blind, mit einem Bleistift in der rechten Hand, an einem mathematischen Aufsatz arbeitend, während er mit der linken Hand eines seiner zahlreichen Enkelkinder umarmte, das in seinem Schoß saß.
** Johannes Kepler (1571-1630) Rhetoriker, Grammatiker, Theologe, Mathematiker und Physiker. Fürsten und Herzöge erwiesen ihm die letzte Ehre, obgleich der protestantische Genius nicht innerhalb der Mauern einer katholischen Stadt beerdigt werden durfte.
*** Johann Philipp Kirnberger (1721-83) Komponist und Musikwissenschaftler, Vorreiter in der Konstruktion der gleichschwebenden Temperatur. Die Stimmung No. 30 enthält gleichzeitig die Kriterien der natürlichen und die der wohltemperierten Stimmung.
Ein Beispiel für die natürlichen Stimmungen zeigt Stimmungstabelle 18.
Name: Euler Leonhard (1739)
*** Intervalle = Ton / (Ton+Intervall) ***
HERTZ WM WM WM WM Abweichung zu Gleichschwebend
Ton abs Quinte Quarte gr.Terz kl.Terz WM Hertz Cent
C 264.000 0.00 0.00 0.00 -21.00 8.00 2.374 15.64
Cis 275.000 0.00 11.00 21.00 -0.00 -7.00 -2.182 -13.69
D 297.000 -11.00 0.00 0.00 -11.00 10.00 3.335 19.55
Dis 309.375 0.00 0.00 21.00 -0.00 -5.00 -1.752 -9.78
E 330.000 0.00 0.00 0.00 -0.00 1.00 0.372 1.96
F 352.000 0.00 -10.00 0.00 -21.00 7.00 2.772 13.69
Fis 371.250 -11.00 0.00 0.00 -11.00 3.00 1.256 5.87
G 396.000 0.00 0.00 0.00 -21.00 9.00 4.004 17.60
Gis 412.500 0.00 0.00 21.00 -0.00 -6.00 -2.804 -11.73
A 440.000 0.00 11.00 0.00 -0.00 0.00 0.000 0.00
B 464.063 10.00 0.00 21.00 -11.00 -4.00 -2.101 -7.82
H 495.000 0.00 0.00 0.00 -0.00 2.00 1.117 3.91
Stimmungstabelle, Stimmungsnummer 18
Für Do = C ermöglicht diese Stimmung reine Dreiklänge für Do, Mi, mi, Fa, So, si, La, la, Ti und ti Dur bzw. Moll. Die Dreiklänge c, #C, #D, f, g, #G, B sind nicht spielbar, die Dreiklänge d, #f, b sind weniger schön als die der gleichschwebenden Stimmung.
Die harmonische Grundausrüstung der Musik des 15. Jahrhunderts besteht aus den sechs Dreiklängen Do, re, mi, Fa, So und la. Wie aus Tabelle 2 ersichtlich, kann man mit der natürlichen Stimmung nur fünf dieser Dreiklänge rein gestalten. Erst Mitte des 15. Jahrhunderts kommt der Ta-Dur als wichtiger Dreiklang für die Harmonisierung der Töne re und fa hinzu. Im 16. Jahrhundert erscheint die Moll-Parallele des Ta-Durs, das so-Moll. Auch die Diese (Erhöhung der Moll-Terz) der Dreiklänge re, mi und la, nämlich die Dur-Dreiklänge Re, Mi und La werden immer häufiger zur Harmonisierung angewandt. Mit der natürlichen Stimmung kann man die elf wichtigsten Dreiklänge der Palestrina-Zeit ( Do, re, Re, mi, Mi, Fa, So, so, la, La und Ta ) nicht optimal gestalten. Ein Bedarf an neuen Stimmungen entsteht.